„Wer gegen seinen Bruder Groll im Herzen trägt
und ist ihm nicht wohlgesinnt,
wer Schuld hat ungesühnt und sich davon nicht löste;

Wem im Sturm der Zeit die Menschenliebe ging verloren,
der bleib` für diesmal fern, betrete diese Schwelle nicht!

Die Arbeit drinnen fordert Redlichkeit und Kraft.
Besinn` dich, reich` dem Bruder deine Hand; –

sonst kehr` erst wieder,
wenn du mit dem Bruder dich versöhnst,
wenn alle Schuld getilgt und Menschlichkeit geübt!“

Hätte ein Bruder wegen der appellierenden Worte des Zeremonienmeisters Gewissensbisse bekommen und wäre er der Logenarbeit ferngeblieben, dieser Bruder (Br.) hätte – ob seiner Konsequenz und Aufrichtigkeit- größte Hochachtung verdient.

Es könnte ja aber auch sein, dass einem Bruder – mit sich selbst im Zweifel – gerade diese gemeinsame Logenarbeit (evtl. mit einer anschl.Tafelloge) eine heilende Medizin ist. Eine Therapie zur Wiederherstellung der   “ Freimaurerischen Brüderlichkeit“, womit wir beim Thema der nachstehenden Ausführungen wären.

„Brüderlichkeit“ (abgeleitet vom Begriff Bruder) definiert das internationale Freimaurerlexikon (Lennhoff/Posner) wie folgt:

Bruder. Zum Zeichen innigster Verbundenheit nennen die Freimaurer einander Brüder, und ihre Gemeinschaft eine B r ü d e r s c h a f t. In den meisten Ritualen wird daher der Aufzunehmende in Abstufungen erst mit seinem bürgerlichen Namen, dann als Freund, schließlich als Bruder bezeichnet. Auf den Namen Bruder gründet die im Bunde herrschende B r u d e r l i e b e ihren Inhalt (s. V e r b r ü d e r u n g).

Der größte Vorwurf gegen Freimaurer ist der des unbrüderlichen Verhaltens. In der gegenseitigen Bezeichnung als Brüder liegt eingeschlossen ein gesteigerter Grad des Entgegenkommens in allen Lebenslagen, Verständnis für Charaktereigenschaften und wohlwollendes Sichhineinleben in die Seele eines anderen Menschen. Nach den angelsächsischen Ritualen sind die Grundsätze der Freimaurerei: Brotherly Love, Relief and Truth (Bruderliebe, gegenseitige Hilfe und Treue).

Eine mehr esoterische Ableitung des Brudernamens geht hervor aus der gemeinsamen „Gotteskindschaft „. So insbesondere im Schwedischen System und in Amerika.

Soweit die lexikalische Definition.

Fraternite` = Brüderlichkeit bedeutet:  Sich verbinden, sich anfreunden Es ist uns wohl allen sehr wohl bewusst, wie schwer es einem fallen kann, nach einem „Bruderzwist“ (nennen wir es einmal so) wieder den ersten Schritt zu machen, auf den Br. zuzugehen zum brüderlichen Schulterschluss.

Zitat: „Der Umgang mit dem Br. ist das Prüffeld der frm. Tugenden überhaupt!“

Dem kann man nur zustimmen. (Z.K. Nr.11 Nov. 88)

Als Freimaurer ist man – schon vom Selbstverständnis her – zur Brüderlichkeit verpflichtet; aber Brüderlichkeit, oder in erweiteter Form Bruderliebe, ist nicht einfach da, man kann sie auch nicht anordnen frei nach dem Motto:  Wir sind Logenbrüder, also haben wir uns brüderlich zu verhalten.  Wie andere Tugenden auch, muß die Brüderlichkeit geübt und gelebt werden und wenn man mit offenem Herzen und ohne jegliche Vorbehalte einem Bruder entgegengeht, entwickelt sich Brüderlichkeit (und vielleicht sogar eine innige Freundschaft) fast von selbst.

Dieses setzt – wie schon angedeutet – voraus, daß ich mich öffne, dass ich bereit bin, den Weg zu meinem Bruder zu suchen und zu gehen.  Ein Weg, der bei mir selbst anfangen muss. Um diesen Weg gehen zu können, gilt es, einen Vorschuss zu geben:  Vertrauen!

Brüderlichkeit ohne Vertrauen ist nicht möglich!   Kann es gar nicht geben. Die Brüderlichkeit gilt allen, ohne Ressentiments der Rasse-, Geschlechts-, Glaubens- oder Volkszugehörigkeit in einer globalen Völkergemeinschaft. Des Weiteren umfasst Brüderlichkeit die konkreten Anliegen, Sorgen und Nöte des Einzelnen – auf Gegenseitigkeit, jedoch ohne aufzurechnen.

Wo Ausgrenzung und Intoleranz herrschen, ist der Begriff Brüderlichkeit nur Makulatur. Wenn ein Bruder in der Loge anderer Meinung ist als ich, muß ich sie nicht notwendiger Weise akzeptieren oder gar annehmen, aber auf jeden Fall habe ich sie zu tolerieren, sofern diese, andere Meinung nicht anderen Brüdern schadet, und nicht den Ordensgesetzen und den allgemeinen guten Sitten widerspricht.

Pluralität – damit ist Meinungsvielfalt gemeint – bereichert.  Von anderen Meinungen und Ansichten kann man auch lernen und evtl. auch manchmal seine eigene Meinung revidieren. Brüderlichkeit ist die Basis unseres Wirkens, ja man kann sagen: „Sie ist das Fundament unseres humanitären Tempelbaues.“

Warum sucht man die Aufnahme in eine Freimaurer-Loge?

Neben der frm. Lehre, die Suche nach Erkenntnis und nach Licht und Wahrheit ist es bestimmt auch die Suche nach einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, denen man sich anvertrauen kann und denen auch etwas geben kann.  Gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen festigen diese Gemeinschaft.  Es entsteht eine brüderliche Harmonie.

Wolfgang Wehling (Logenmeister)

Anmerkung: Diese Grundsätze zur freimaurerischen Brüderlichkeit sind natürlich nicht nur auf die maskulinen Logen beschränkt; sondern sie werden gleichfalls so in den femininen bzw. gemischten Logen praktiziert und gelebt. Der Begriff Brüderlichkeit gilt hier als geschlechtsneutral und somit auch für Freimaurer-Schwestern.